hom80
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« Antworten #124 am: März 21, 2008, 08:52:46 » |
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Auf revolutionärer Basis Vorabdruck. Soziale Ursprünge des ökonomischen Aufstiegs Chinas Von Giovanni Arrighi
Revolution als Reformgrundlage
Was die Beziehungen zwischen den Reformen und Chinas sozialistischer Tradition angeht, gibt es mindestens zwei gute Gründe dafür, dass die KPCh unter Deng die Kulturrevolution, aber nicht die durch die Chinesische Revolution begründete Tradition ablehnte. Erstens vollendeten die internen Unstimmigkeiten und das politische Chaos der späteren Jahre der Kulturrevolution die Errungenschaften der Chinesischen Revolution, drohten diese aber gleichzeitig zunichte zu machen. Und zweitens verschonte der Ansturm der Kulturrevolution die KPCh nicht, vielmehr unterminierte er die Basis der Macht und Privilegien ihrer Kader und Funktionäre im Verwaltungsapparat. So hatten Dengs Reformen einen doppelten Reiz: für Parteikader und Funktionäre als Mittel zur Wiederherstellung ihrer Macht und Privilegien auf neuer Grundlage, und für die Gesellschaft im allgemeinen als Mittel zur Konsolidierung der Errungenschaften der Chinesischen Revolution, die die Kulturrevolution gefährdet hatte.
Was den ersten Anreiz betrifft, so schufen die Reformen unzählige Gelegenheiten zur Neuausrichtung unternehmerischer Energien von der politischen auf die wirtschaftliche Sphäre, die Parteikader und -funktionäre eifrig beim Schopf packten, um sich im Bündnis mit Regierungsbeamten und Managern von Staatsunternehmen – häufig selbst einflussreiche Parteimitglieder – zu bereichern und Macht zu erlangen. Dabei wurde mit diversen Formen der Akkumulation durch Enteignung, etwa der Aneignung öffentlichen Besitzes, der Veruntreuung staatlicher Gelder und dem Verkauf von Landnutzungsrechten, der Grundstock riesiger Vermögen gelegt. Unklar ist jedoch, ob Bereicherung und Machterwerb dieser Art zur Herausbildung einer kapitalistischen Klasse geführt haben und, noch wichtiger, ob eine solche Klasse, wenn sie denn entstanden ist, die Kontrolle über die Kommandohöhen der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft übernehmen konnte. Unter Jiang Zemin (1989–2002) schien eine positive Antwort auf beide Fragen nahezuliegen. Aber unter Hu Jintao und Wen Jiaobao – wenn die Zeitspanne zur Beurteilung ihrer Orientierung auch kürzer ist – kommt es anscheinend zu einer Umkehr, durch die eine positive Antwort, insbesondere auf die zweite Frage, viel weniger naheliegt.2
Was den Reiz von Dengs Reformen für die Gesellschaft im allgemeinen betrifft, so müssen wir zunächst anerkennen, dass der Erfolg der Reformen in hohem Masse auf früheren Errungenschaften der Chinesischen Revolution beruhte. Wenn westliche und japanische Beobachter Chinas Arbeiterschaft im Vergleich zu der Indiens, einschliesslich ländlicher Migranten, für ihre Bildung, Lernwilligkeit und Disziplin loben, schreibt Au Loong-yu, ?kommt ihnen gar nicht in den Sinn, dass einer der Faktoren hierfür die grosse Veränderung durch die vorhergehende Landreform ist, und die aus ihr folgende kollektive Versorgung mit ländlicher Infrastruktur und Bildung, und nicht etwas, das mit der späteren Marktreform zu tun hatte?.3 Der Boom in der landwirtschaftlichen Produktion von 1978 bis 1984 hatte etwas mit den Reformen zu tun, aber nur, weil sie auf dem Vermächtnis der Mao-ära aufbauten. 1978 bewässerten die Gemeinden Chinas mehr als doppelt so viel Ackerland wie 1952 und setzten verstärkt verbesserte Technologien ein, wie Düngemittel und ertragreichen Halbzwergreis, der 1977 auf 80 Prozent der chinesischen Reisanbaufläche wuchs. ?Zu dem Boom in der landwirtschaftlichen Produktion kam es dadurch, dass die während der Mao-ära aufgebaute produktive Basis mit den Anreizen durch das System der Eigenverantwortlichkeit der Haushalte verbunden wurde.?4
Chinas grösste Fortschritte im Pro-Kopf-Einkommen traten nach 1980 auf. Aber die grössten Fortschritte in der Lebenserwartung Erwachsener und, in einem geringeren Ausmass, in der Alphabetisierungsrate Erwachsener, das heisst in der Grundversorgung, traten vor 1980 auf. Dieses Muster ist ein starker Beleg für die Behauptung, dass Chinas wirtschaftlicher Erfolg auf den aussergewöhnlichen sozialen Errungenschaften der Mao-ära aufbaute. In einem 1981 veröffentlichten Bericht erkannte sogar die Weltbank die Bedeutung dieser Errungenschaften an. ?Chinas bemerkenswerteste Errungenschaft der letzten dreissig Jahre ist, dass die untersten Einkommensschichten hier in bezug auf Grundbedürfnisse viel besser gestellt sind als in den meisten anderen armen Ländern. Sie haben Arbeit, ihre Nahrungsmittelversorgung wird durch eine Mischung aus staatlicher Rationierung und kollektiver Eigenversicherung gewährleistet, der grösste Teil ihrer Kinder besucht nicht nur eine Schule, sondern erhält auch einen vergleichsweise guten Unterricht, und die grosse Mehrheit hat Zugang zu elementarer Gesundheitsversorgung und Familienplanungsdiensten. Die Lebenserwartung– deren Abhängigkeit von vielen wirtschaftlichen und sozialen Variablen sie wahrscheinlich zum besten Einzelindikator für das Ausmass echter Armut in einem Land macht – ist ausserordentlich hoch für ein Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen dieses Niveaus.?5
Weltpolitik nach Kapitalregeln Ob Dengs Reformen diese Errungenschaften konsolidiert oder unterminiert haben, ist ein strittiger Punkt, zu dem ich hier nur zwei Betrachtungen anstellen möchte. Erstens hatten sich die Indikatoren für die Grundversorgung der Bevölkerung Chinas (Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate Erwachsener) schon vor den Reformen so stark verbessert, dass es wenig Raum für weitere entscheidende Verbesserungen gab. Und doch kam es zu weiteren Verbesserungen, insbesondere in der Alphabetisierungsrate Erwachsener. Von diesem Standpunkt aus scheint es, als hätten die Reformen die vorhergehenden Errungenschaften der Chinesischen Revolution konsolidiert und nicht unterminiert.
Zweitens darf man die Bedeutung von Chinas Fortschritten im Pro-Kopf-Einkommen während der Reformära nicht unterschätzen, selbst wenn sie nicht mit einer entsprechenden Verbesserung der Grundversorgung einhergingen. In einer kapitalistischen Welt ist, wie wir wiederholt betont haben, der nationale Wohlstand, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, die primäre Quelle nationaler Macht. Selbst wenn das Streben nach nationaler Macht die Veränderung der Welt in eine sozialistische Richtung bezweckt, blieb der KPCh, wie Mao stets immer sehr genau verstand, wenig anderes übrig, als das Spiel der Weltpolitik nach den bestehenden kapitalistischen Regeln zu spielen. Als die bevorstehende Niederlage in Vietnam die Vereinigten Staaten zwang, die normalen Handels- und diplomatischen Beziehungen Chinas mit dem übrigen Ostasien und der Welt im Ganzen wieder zuzulassen, war es für das kommunistische China vollkommen sinnvoll, die sich aus diesen Beziehungen ergebenden Chancen zu nutzen, um seinen nationalen Wohlstand und seine Macht zu steigern. Noch bevor die US-amerikanische Invasion im Irak dem chinesischen Aufstieg neuen Schwung verlieh, zeigten Richard Bernstein und Ross Munro ungeschminkt, aber scharfsinnig die wahre politische Bedeutung von Chinas Wechsel zur Marktwirtschaft auf.
?Die Ironie der chinesisch-amerikanischen Beziehungen besteht darin, dass China, als es sich fest im Griff des ideologischen Maoismus befand und solche ideologische Verbissenheit an den Tag legte, dass Amerikaner es für gefährlich und bedrohlich hielten, in Wirklichkeit ein Papier?tiger war, schwach und praktisch ohne globalen Einfluss. Nun, da China die äusseren Zeichen des Maoismus abgelegt und einen pragmatischen Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung und des globalen Handels eingeschlagen hat, scheint es weniger bedrohlich, erwirbt aber tatsächlich die erforderlichen Mittel, um seinen globalen Ambitionen und Interessen mit echter Macht Nachdruck zu verleihen.?6
Eine präzisere Version dieser Bewertung ist, dass die KPCh, solange China durch die US-amerikanische Politik des Kalten Krieges vom globalen Handel abgeschnitten war und sich militärisch durch die UdssR bedroht fühlte, dazu getrieben wurde, Ideologie als Hauptwaffe im Kampf um die nationale und internationale Konsolidierung ihrer Macht einzusetzen. Aber als die ideologische Waffe in den letzten Jahren der Kulturrevolution begann, auf sie zurückzuschlagen, etwa zur selben Zeit, als die USA im Kalten Krieg gegen die UdssR ein Bündnis mit China anstrebten, waren die Voraussetzungen geschaffen für eine pragmatische Nutzung des Marktes als Instrument des Machterwerbs der KPCh auf nationaler und der Volksrepublik China auf internationaler Ebene. Während über den Machterwerb der KPCh das letzte Wort noch nicht gesprochen ist – da noch nicht klar ist, ob ihr Einfluss auf Staat und Gesellschaft Chinas gestärkt oder geschwächt worden ist –, steht bereits fest, dass die Wirtschaftsreformen für den Machterwerb der Volksrepublik ein durchschlagender Erfolg waren.
Revolutionäre Basis: Bauernschaft
Warum also einen neuen Kurs einschlagen, wie die KPCh es unter ihrer neuen Führung getan hat? Was hat die Veränderung ausgelöst, und in welche Richtung wird sie Chinas ökonomie und Gesellschaft aller Voraussicht nach führen? Wang Huis Beobachtungen zur Beziehung zwischen Dengs Reformen und der Tradition der Chinesischen Revolution geben uns einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Fragen. Die Grundlage dieser Tradition ist eine eigene chinesische Sorte von Marxismus-Leninismus, die mit der Aufstellung der Roten Armee in den späten 1920er Jahren entstand, sich aber erst nach der Besetzung von Chinas Küstenregionen durch Japan in den späten 1930er Jahren voll entwickelte. Diese ideologische Neuerung hatte zwei Hauptbestandteile.
Erstens wurde das leninistische Prinzip der Partei als Avantgarde beibehalten, die aufrührerische Stossrichtung der leninistischen Theorie aber aufgegeben. In der stark zersplitterten Einzelstaatsstruktur des Chinas der Bandenchefs und der Guomindang (GMD) gab es keinen ?Winterpalast? zu stürmen oder besser gesagt, es gab zu viele solcher Paläste, als dass eine aufständische Strategie irgendeine Erfolgschance gehabt hätte. Die aufrührerischen Aspekte der leninistischen Theorie wurden daher durch das ersetzt, was Mao später als ?Massenlinie? zur Theorie erhob – die Idee, dass die Partei als Avantgarde nicht nur Lehrer, sondern auch Schüler der Massen sein sollte. ?Dieses Von-den-Massen-zu-den-Massen-Konzept?, so bemerkt Fairbank, ?war tatsächlich eine Art Demokratie, angepasst an die Tradition Chinas, wo der Beamte der oberen Klassen dann am besten regierte, wenn ihm die wahren Wünsche der Menschen vor Ort am Herzen lagen, und er so in ihrem Interesse regierte.?7
Zweitens, in der Frage nach der gesellschaftlichen Basis gab die KPCh der Bauernschaft statt dem städtischen Proletariat – Marx’ und Lenins revolutionärer Klasse – den Vorrang. Wie das Massaker der GMD an kommunistisch geführten Arbeitern in Shanghai 1927 demonstriert hatte, waren die Küstenregionen, in denen sich das Gros des städtischen Proletariats konzentrierte, ein viel zu trügerisches Gelände, um von hier aus die ausländische Vorherrschaft und die Hegemonie der GMD über die chinesische Bourgeoisie herauszufordern. Da sie durch die im westlichen Stil ausgebildeten und ausgerüsteten GMD-Armeen immer weiter von den Stätten der kapitalistischen Expansion fortgetrieben wurden, blieb der KPCh und der Roten Armee nichts anderes übrig, als ihre Wurzeln unter der Bauernschaft in armen und entlegenen Gegenden zu schlagen. Dies führte zu dem, was Mark Selden als ?einen in beide Richtungen wirkenden Sozialisationsprozess? beschrieben hat, in dem die Parteiarmee die subalternen Schichten der chinesischen ländlichen Gesellschaft zu einer mächtigen revolutionären Kraft formte und ihrerseits von den Bestrebungen und Werten dieser Schichten geprägt wurde.8
Die Verbindung dieser beiden Merkmale mit der modernistischen Stossrichtung des Marxismus-Leninismus ist die Grundlage der chinesischen revolutionären Tradition und trägt zur Erklärung der Schlüsselaspekte des chinesischen Entwicklungspfads vor und nach den Reformen sowie der jüngsten Veränderung der politischen Linie unter Hu bei. Zuallererst erklärt sie, warum in Maos China, in scharfem Gegensatz zu Stalins UdssR, die Modernisierung nicht durch die Zerstörung der Bauernschaft, sondern durch eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer Bildung angestrebt wurde. Zweitens erklärt sie, warum die chinesische Modernisierung, vor und nach den Reformen, nicht nur auf die Internalisierung der westlichen industriellen Revolution gegründet war, sondern auch auf die Wiederbelebung der Merkmale der einheimischen Fleissrevolution mit ihrer ländlichen Basis. Drittens erklärt sie, warum unter Mao die Tendenz zur Herausbildung einer städtischen Bourgeoisie von Funktionären der Staatspartei und Intellektuellen durch ihre ?Umerziehung? in ländlichen Gegenden bekämpft wurde. Schliesslich erklärt sie, warum Dengs Reformen zuerst in der Landwirtschaft gestartet wurden und warum sich Hus neuer Kurs auf den Ausbau der Gesundheits-, Bildungs- und Wohlfahrtsleistungen in ländlichen Gegenden unter dem Banner einer ?neuen sozialistischen Landschaft? konzentriert.
Stadt-Land-Kooperation
Das eigentliche, dieser Tradition zugrunde liegende Problem besteht darin, ein Land zu regieren und zu entwickeln, dessen Landbevölkerung grösser ist als die Gesamtbevölkerung Afrikas, Lateinamerikas oder Europas. Kein anderes Land ausser Indien hatte je ein auch nur ansatzweise vergleichbares Problem. Von diesem Standpunkt aus, und wie schmerzlich die Erfahrung für städtische Funktionäre und Intellektuelle auch gewesen sein mag, konsolidierte die Kulturrevolution die ländliche Basis der Chinesischen Revolution und leistete die Vorarbeit für den Erfolg der Wirtschaftsreformen. Es genügt zu erwähnen, dass– teilweise als Ergebnis der Politik, teilweise als Ergebnis der Störung des städtischen Industriebetriebs durch parteiinterne Konflikte– grosse Nachfrage nach den Produkten ländlicher Unternehmen bestand, was zu einer bedeutenden Expansion der Kommunen- und Brigadeunternehmen führte, aus denen später viele der TVEs (Township and Village Enterprises, Kollektive Gemeinde- und Dorfunternehmen; d. Red.) hervorgingen.
Gleichzeitig gefährdete die Kulturrevolution nicht nur, wie bereits bemerkt, die Macht der Funktionäre der Staatspartei und die politischen Errungenschaften der Chinesischen Revolu?tion, sondern auch die gesamte modernistische Komponente der revolutionären Tradition. Ihre Ablehnung zugunsten von Wirtschaftsreformen wurde daher als wesentlich für eine Wiederbelebung dieser Komponente präsentiert und wahrgenommen. Im Lauf der Zeit jedoch liess gerade der Erfolg dieser Wiederbelebung das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen und unterminierte Mitte bis Ende der 1990er Jahre ernsthaft die revolutionäre Tradition. Insbesondere zwei Entwicklungen kennzeichneten diese Tendenz: ein enormer Anstieg der Einkommensunterschiede und die wachsende Unzufriedenheit des Volkes mit den Methoden und den Folgen der Reformen.
--------------------------------------------------------------------- Erscheint in den nächsten Tagen: Giovanni Arrighi, Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, aus dem US-Amerikanischen von Britta Dutke, VSA-Verlag Hamburg, 520 S., 36,80 Euro
Giovanni Arrighi ist Professor für Soziologie und Direktor des ?Institute for Global Studies in Culture, Power and History? an der Johns Hopkins University in Baltimore/MD, USA
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